Graf, K.-R.; Augustin, S.:
Simulation im World Wide Web zur Gestaltung von Versorgungsketten industrieller Produktionsbetriebe.
In: Ausbildung in der Logistik
Hrsg.: Engelhardt-Nowitzki, C.
Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2006, S. 67-79.






SUPPLY CHAIN SIMULATION (SCS)
Simulation im World Wide Web
zur Gestaltung von
Versorgungsketten industrieller Produktionsbetriebe
 




Prof. Dr.-Ing. Karl-Robert Graf
Prof. Dr.mont. Siegfried Augustin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 




 


Einführung und Zielsetzung

 

Seit Jahren werden in der Lehre und beruflichen Weiterbildung Simulati­onswerkzeuge zur Vermittlung logistischen Funktionen und Zusammen­hänge eingesetzt.

Bezüglich der eingesetzten Methoden und Mittel wurden in der Logistik und Informatik in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. Hierzu können gezählt werden:

·         Überführung des Logistik Managements in ein wesentlich erweiter­tes Supply Chain Management.

·         Etablierung von Kommunikations- und Businesswerkzeugen zum effek­tiven Be­trieb einer Supply Chain wie B2B, B2C, elektronische Markt­plätze/Märkte, Internet etc.

·         Entwicklung neuer Programmiersprachen für den offenen und ver­teilten Einsatz der Trainingsmodule in lokalen und globalen Net­zen.

Dabei werden die IT und insbesondere die Simulationstechnik, wie aber auch das Pro­zessmanagement vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Waren in der Vergangenheit lediglich einzelne Funktionen und später interne Prozesse das Objekt der Betrachtung, so geht es heute darum, ganze Netzwerke betrieblicher Systeme abzubilden. (vgl. Abb. 1)

Im Rahmen des vorgestellten Projekts werden nun die bisher vermittelten traditionellen Aspekte um die neuen, aktuellen Methoden und Konzepte erweitert, sodass die von diesen geforderten, interdisziplinären, bereichs- und unternehmensübergreifenden Arbeitsmetho­den trainiert werden können. Im besonderen handelt es sich dabei um

 

·         Prozessgerechtes Produktdesign

·         Auswahl geeigneter Materialien und Dienstleistungen

·         Auswahl geeigneter Lieferanten

·         Rechtliche Vereinbarungen zwischen den Unternehmen in der Supply Chain

·         Einrichtung eines Supply Chain weiten Conrtrolling-Systems

·         Nutzung moderner IT für die Informationslogistik in der Supply Chain

 

Hierzu wird das Trainingsmedium Simulation auf den aktuellsten Stand der Informatik, Kommunika­tions- und Netzwerktechnik gebracht.

Im Rahmen eines Verbundprojektes mit Kooperationspartnern aus der Industrie (SIEMENS AG) und anderen Hochschulen (Montanuniversität Leoben, Österreich und Technological Educational Institute of Kavala, Griechenland) wurde ein Trai­ningskonzept ent­wickelt, das die traditio­nellen produktionslogistischen Aspekte  (Planung und Steuerung interner Material-, Auftrags- und Infor­mationsflüsse) um die genannten neuen Anforderun­gen ergänzt.

 

Abb. 1  Gestaltungsstufen von Produktionssystemen

Zielset­zung ist der Aufbau eines simulierten Modellsystems, an dem mehrere geografisch verteilte Wertschöpfungspartner einer Versorgungskette beteiligt sind. Die Werteflüsse in Form eines Warenaus­tausch und Geldflusses zwischen den Wertschöpfungspartnern erfolgt im Sinne von B2B, B2C, e-commerce oder ähnlichen Lösungen über einen virtuellen Markt­platz.

Der Marktplatz und die damit verbundenen Rahmenbedingungen sind so zu gestalten, dass im Rahmen eines Planspiels die Betriebe der beteilig­ten Wertschöpfungspartner neu zu planen sind und durch entsprechende Maßnah­men zwischen den Wertschöp­fungspart­nern eine Supply Chain aufzu­bauen ist.

Die im simulierten Modellsystem abgebildeten Wertschöpfungs­partner werden von jeweils einer Trainingsgruppe geplant und können geographisch unabhän­gig über einen virtuellen gemeinsamen Markt agieren und kooperieren. Damit wird die Mög­lichkeit geschaffen, dass Trai­nings­gruppen aus unterschiedli­chen Hochschulen und industriellen Weiterbildungsmaßnahmen gleichermaßen und zeitlich parallel an einem Planspiel interaktiv teilnehmen kön­nen.

 

Durch die WEB-basierte Abwicklung des Planspiels lassen sich folgende, gegenüber der konventionellen Durchführung zusätzliche Trainingsaspekte realisieren:

 

·         Schaffung einer dynamischen Cooperation unter den Teilnehmergruppen

·         Arbeitsgruppen können über die Grenzen von Universitäten und Abteilungen gebildet werden

·         Training und Gruppenarbeit sind von regionalen Einschränkungen unabhängig

·         Zeitrestriktionen sind nicht relevant (kein gleichzeitiges Arbeiten der Gruppen im Planspiel notwendig)

·         Mehrsprachige Durchführung möglich, aufgrund unterschiedlicher Sprachversionen der Tools

·         Produkt- und  Wertefluss werden durch das Internet simuliert

·         Der Informationsfluss richtet sich nach den Methoden des freien Marktes, seine Gestaltung kann durch die Simulation trainiert werden

·         Handbücher, Trainingsmaterial und sonstige Hilfen liegen im Internet

·         Die Anzahl der Teilnehmer kann jederzeit verändert werden

 

 

Umsetzung und Projektstand

 

Basis dieses logistischen Trainingskonzeptes ist eine Rechner simulierte Modellwelt meh­rerer industrieller Betriebe. Hierzu galt es ein, den ge­nannten Rahmenbedingun­gen angepasstes neues Simulationssystem zu entwickeln. Dabei konnte auf einem bereits seit Jahren eingesetzten Simulations- und Planspielkon­zept (TCP – Training Center Produktion) aufgebaut werden [4].

Die Simulation erfolgt heute auf einem zentralen Anwendungs-Server, auf den die Teilnehmergrup­pen über das Inter- bzw. Intranet und einen zwischengeschalteten Web-Server zugreifen kön­nen. Entspre­chend den informationstechnologischen Anforderungen erfolgt die Reali­sierung in den Pro­grammier- und Datenbeschreibungssprachen Java, HTML und XML und SVG. (vgl. Abb. 2)

 

Abb. 2  TCP Architektur

 

 

Heute wird das Planspiel über ein Web-Portal betrieben (vgl. Abb.3). Die derzeit ver­fügbaren Portalfunktionen sind:

                                      - Datenübergabe mit XML-Datei
                                      - Simulation durch Formulareingabe
                                      - Marktplatzaktivitäten
                                      - Ergebnisauswertung
                                      - Forum
                                      - Handbuch und Spielunterlagen
                                      - Hilfefunktion für den Teilnehmer
                                      - Verwaltungsfunktionen für den Modertor

 

Abb. 3  SCS Zugang

 

Erste Fremdsprachversionen wurde in Englisch, Französisch und Griechisch realisiert. (vgl. Abb.4).

 

In das Web-Portal wurden alle für das Spiel benötigten Informationsmaterialien einge­bun­den und sind den Teilnehmern jederzeit zugänglich.

 

Hierzu zählen:

                                      - ein elektronisches Handbuch
                                      - die für das Spiel notwendigen Formulare
                                      - fachspezifische Präsentationen.

 

Abb. 4  Englische Sprachversion

 

 

Modellbeschreibung

 

Alle beteiligten Gruppen arbeiten mit einem Modellbetrieb (TCP), der im Ausgangs­zu­stand für alle Gruppen identisch ist. In diesem Modellbetrieb werden 3 Erzeugnis­ses hergestellt: Die Erzeugnisse bestehen aus Eigenfertigungsprodukten (Teile und Bau­gruppen) und aus Kaufteilen.

Das in einem Modell simulierte Produktionssystem ist von den Teilnehmergruppen zu pla­nen. Hierzu zählt u.A. die Vorgabe von Beschaffungsaufträgen, Fertigungsaufträgen, Fer­tigungskapazitäten und Steuerungsmaßnahmen.

Im Ausgangszustand arbeiten die beteiligten Gruppen in einer isolierten Modellwelt. Kaufteile werden von einem anonymen Beschaffungsmarkt unter unterschiedlichen Rah­menbedingungen bezogen. (vgl. Abb. 5)

Die Rahmenbedingungen werden geprägt durch lieferantenspezifische Merkmale und deren Ausprägungen. Hierzu zählen:

- die Lieferzeit

- die Termintreue

- die Mengenabweichung

Rabatte und Diskontvereinbarungen

Aus diesen Merkmalen ergeben sich unterschiedliche Lieferantenprofile für beispielsweise

- Just in Time Anlieferungen

- Sonderbestellungen oder

- Bestellungen unter verstärkten Kostengesichtspunkten

(vgl. Abb. 4)

 

Abb. 5  Traditionelle Sicht betrieblicher Systeme

 

In der Folge erhalten die Gruppen die Möglichkeit den Warenaustausch sukzessive über einen neu installierten zentralen Markt abzuwickeln. Hierzu können von den Gruppen Angebote am Marktplatz abgestellt bzw. Nachfragen platziert werden.

Die Produktionseinheiten und Planungsgruppen gestalten somit ihre Systeme in ei­nem gemeinsamen offenen Markt. Der Beschaffungs- und Absatzmarkt ist transpa­rent und gestattet Gestaltungsmöglichkeiten bei Kunden- und Lieferantenbeziehun­gen im Sinne eines Supply Chain Managements. Jede Gruppe kann als Kunde bzw. Lieferant für Teile, UE (Unfertige Erzeugnis) und FE (Fertigerzeugnisse) im Gesamtmarkt agieren. (vgl. Abb. 6)

 

 

Abb. 6  Gestaltung betrieblicher Netwerke

 

Bei der Gestaltung der Kunden-Lieferantenbeziehungen (Businessbeziehungen) sind diverse Ausprägungen im Sinne der neu etablierten, Internet basierten Business­beziehungen möglich. Bisher wurden drei Ausprägungsstufen implementiert. (vgl. Abb. 7)

 

Businessbeziehungen 1  (Marktplatz)   für Teile, UE und FE

Offen für alle Anbieter und Nachfrager. Anbieter und Nachfrager bestimmen die Kon­ditio­nen selbst und isoliert aus Sicht ihrer betrieblichen Situation und unter Berück­sichtigung von Marktbeobachtungen.

 

Businessbeziehungen 2  (B2C; B2B; A2A) für Teile, UE und FE

Die Produktionseinheiten stimmen untereinander exklusive Belieferungsstrategien ab. Die Konditionen ergeben sich aus der Sicht ihrer betrieblichen Situation und dem Anspruch der ganzheitlichen Gestaltung der Versorgungskette (Supply Chain) zum Vorteil aller Beteiligten

 

Businessbeziehungen 3 (traditioneller Markt) (für Teile, UE und FE)

Anonymer (traditioneller) Anbieter- und Nachfragermarkt, der von den Gruppen nur einge­schränkt beeinflussbar ist.

 

Abb. 7  e-Business in SCS

 

Die traditionelle Durchführung des Planspiels erfolgte bisher in der Form, dass lokal ge­trennte Spiele an verschiedenen Hochschulen und industriellen Standorten eine voneinander völlig unabhän­gige Mo­delllandschaft abbildeten, wie auch die Gruppen innerhalb eines Spieles sich über einen anonymen Markt versorgten und ihre Ware auf einem anonymen Markt absetzen und nur in geringem Umfang Berührungspunkte untereinander hatten.(Abb. 8)

Abb. 8  Traditionelles Konzept

 

Demgegenüber ergeben sich durch die Web-Integration zwischen verschiedenen Spielen und auch zwischen den verschiedenen Gruppen eines Spiels ganz neue Gestaltungs­möglichkeiten.

Die Gruppen sind von einer lokalen Präsenz an einem Spielort losgelöst, da die Simulation der Modellbetriebe, die Kommunikation der beteiligten Wertschöpfungspartner, der Warenaustausch und der Geldmittelfluss virtuell über das Inter­net auf einem zentralen Server erfolgt. Jede Gruppe, egal in welches Spiel diese in­teg­riert ist, kann somit am Gesamtmarkt partizipieren. Dabei ist es unwesentlich, in wel­chem Zeitraum und an welchem Ort ein Spiel durchgeführt wird. Es agieren am Markt immer diejenigen Grup­pen untereinander, die aktuell präsent sind. (vgl. Abb. 9)

Abb. 9  Integrationskonzept

Zusammenfassung

 

Das vorliegende Simulationsprogramm (SCS) konnte als solide Grundlage für ein um­fangreiches, modernes und global ausgerichtetes Lehrkonzept eingesetzt werden. Es erlaubt die Simulation und das Training umfangreicher Logistikmethoden und -maßnah­men unter Verwendung neuester Informationstech­nologien und damit verbunden, den Einsatz neuester Logistikkon­zepte im Sinne des Supply Chain Ma­nagements. Die Einsatzmöglichkei­ten moderner Medien und insbe­sondere der Einsatz des Internet eröffnen ganz neue und bisher noch unbekannte Methoden im Sinne eines E-Learning.

Die angewandte Servertechnologie und die damit mögliche zentrale Simula­tion der Pro­duktionsstätten, verbunden mit den Standardmethoden der Internet Kommunika­tion (e-mail und Foren), gestatten erstmals einen simulierten und geografisch unabhängigen Austausch von Kaufteilen, Zwischenprodukten, Erzeugnissen und Geldwerten. Damit wird erstmals eine interna­tionale und äußerst realitätsnahe Form der Plan­spiel­durchführung möglich. Die Gestaltung und Umsetzung der Werte­ströme, der Informati­onslogistik sowie der vertragli­chen Rahmenbedingungen be­dient sich gleicher Methoden und Werkzeuge wie sie in der Praxis unter Verwendung neuester Technologien heute zum Einsatz kommen. Lediglich die Herstellung von Zwischen­produkten und Erzeugnis­sen, durch die betei­ligten Gruppen, erfolgt in einer Simula­tion.

Bei einer kontinuierlichen, zeitlich unbegrenzten Etablierung und einer globalen Be­teili­gung von Lehreinrichtungen mit ihren Gruppen, kann so ein simulierter internatio­naler Gesamtmarkt entstehen, indem die beteiligten Gruppen über einen bestimmten Zeitraum (z.B. semesterbezogen) mittels der Simulation Materialien und fiktive Zwi­schenprodukte und Erzeugnisse beziehen, herstellen und verteilen.

Auf diese Weise wird es möglich sein, während des Planspiels stufenweise Supply Chains aufzubauen und zu erweitern. Dies macht es notwendig, organisatorische und rechtliche Aspekte zu diskutieren und darüber zu entscheiden:

Dadurch können unterschiedliche Methoden des Beschaffungs- und Distributionsmanagements vermittelt und trainiert werden. Außerdem ergibt sich die Möglichkeit zu einem dynamischen Benchmarking zwischen den einzelnen Gruppen, verbunden mit der Gestaltung eines Supply Chain Controllings. 

Durch die Schaffung einer Fremdsprachversionen und der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Hochschulen in Deutschland, Österreich und Griechenland konnte dieses offene Kon­zept erstmals auf eine internationale Platt­form gestellt wer­den. Mit dem Polytechnikum in Kavala (TEI) wurde zum ersten Mal eine Lehrveranstaltung im nicht deutschsprachigen Ausland durchgeführt.

Aber nicht nur Hochschulen können weltweit von einem solchen Lehr­konzept profitieren. Ein Forum auf der LEARNTEC widmete sich dem Problem des so ge­nannten „Digital Divide“. Unter dem Motto „Reach the Unreachables hat es sich die UNESCO zur Aufgabe gemacht, mit den neuen Informations- und Kommuni­kationstech­nologien und insbesondere dem Internet, Menschen in weniger weit ent­wickelten Ländern an neuen und anspruchsvollen Bildungsmaßnahmen teilhaben zu lassen /5/. Das vorliegende Lehrkonzept kann auch hier einen wesentlichen Beitrag leisten.


Literatur

 

[1]        Augustin, Siegfried; Graf Karl-Robert: Planspiele bei der Einführung kontinuierlicher Verbesserungsprozesse. In: etz, 124(1995)13-14, pp.12-17

[2]        Lang, Sabine; Klaus-Peter Jung: Planspiele für die Praxis. In: Logistik Heute, München, 23(2001)3, pp. 50-52.

[3]        Riis, Jens O.: Simulation Games in Production Environement – An Introduction. In: Simulation Games and Learning in Production Management. London: Chapman & Hall, 1995, pp. 3-12.

[4]        Wiendahl, Hans-Peter: Fähigkeit zum Wandel und kurze Reaktionszeiten bestimmen den Erfolg. In: Industrieanzeiger, Stuttgart 118(1996)34/35, pp. 28-31.

[5]        Kappel, Hans Henning: LEARNTEC 2002: Internationalität wächst. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Frankfurt 27.01.2002, p. 70.